Erster Ortstermin der „Schnittstelle Religion“

Rückblick auf die Podiumsdiskussion „Religion im Ukraine-Krieg. Historische und regionale Perspektiven“

Sebastian Rimestad, Stanislau Paulau, Benedikt Schulz, Nikolay Mitrokhin, Mihai Grigore, Svetlana Suveica

Am 3. November 2022 fand mit der Podiumsdiskussion „Religion im Ukraine-Krieg. Historische und regionale Perspektiven“ die erste öffentliche Veranstaltung der „Schnittstelle Religion“ statt. Im Historischen Museum Frankfurt diskutierten fünf Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Disziplinen und Forschungseinrichtungen die Rolle religiöser Motive bei der Rechtfertigung des Kriegs und fragten danach, welche Handlungsoptionen die aktuelle Lage der Orthodoxie eröffnet bzw. verschließt. Die Moderation übernahm der freie Journalist Benedikt Schulz, der unter anderem bei „Tag für Tag“, dem Religionsmagazin des Deutschlandfunks, mitwirkt.

„Uns war es wichtig, dass die erste Veranstaltung der ,Schnittstelle Religion‘ ein hochaktuelles Thema aufgreift, das niemanden kalt lässt. Die lebhafte Diskussion im Saal zeigt, dass wir einen Nerv getroffen haben“, resümiert Birgit Emich, Sprecherin der „Schnittstelle Religion“. 

Die Veranstaltung wurde durch ein Grußwort von Jan Gerchow, dem Direktor des Historischen Museums Frankfurt eröffnet, in dem er den Zusammenhang von Ausstellungen, Religion und nationalen Mythen hervorhob. Anschließend stellte Birgit Emich den Forschungsverbund „Dynamiken des Religiösen“ und die „Schnittstelle Religion“ vor. Hierbei ging sie auch auf ein von ihr initiiertes Stipendienprogramm ein, durch das seit dem Frühjahr insgesamt fünf ukrainische, zu Religion forschende Gastwissenschaftler*innen nach Frankfurt kommen konnten .

Den Auftakt auf dem Podium machte Sebastian Rimestad. In seinem Eingangsstatement verortete er den Konflikt um die Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine vor dem Horizont einer weiteren Auseinandersetzung zwischen griechischer und russischer Orthodoxie und betonte die Tragweite der Konfrontation: Verständigung würde nicht allein durch die weltanschaulichen Positionen des russischen Patriachats erschwert. Vielmehr hätten historisch gewachsene Differenzen dazu geführt, dass sich die Kirchenoberen in getrennten Erkenntniswelten bewegten und ihnen mittlerweile auch eine geteilte Sprache fehle. Diese Entwicklung stünde allerdings im Kontrast zur Lebenswelt der Gläubigen, in der – wie sich gerade in der Ukraine zeige– Kooperation über formal-kirchliche Grenzen weiterhin möglich sei. 

Svetlana Suveica nutzte eine Kiewer und eine Moskauer Statue des Großfürsten Wolodimir I bzw. Vladimir I, um die Bedeutung des Großfürsten und des mit ihm verknüpften Territoriums für die Ukraine und Russland herauszuarbeiten: Insofern Wolodimir/Vladmir die Christianisierung seines Reiches, der Kiewer Rus, begonnen habe, sei dieses Gebiet für beide Länder Teil eines religiös eingefärbten Gründungsmythos geworden. Dieses gemeinsame Erbe diene Russland als Vorwand, um sich als „Schutzmacht der Orthodoxie“ in die Geschicke der Nachbarländer einzumischen. Um sich gegenüber dieser „Einheitserzählung“ zu behaupten, hätten gerade im 19. Jahrhundert die katholischen Bevölkerungsanteile der Ukraine eine wichtige Rolle für die dortige Nationalbewegung gespielt, schienen sie doch die Anbindung des Landes an Westeuropa zu belegen. Zudem seien bereits im 20. Jahrhundert in politischen Umbruchsituationen eigenständige, wenn auch kurzlebige ukrainisch-orthodoxe Kirchen entstanden. Dass Russland die erneuten Bestrebungen nach Unabhängigkeit nicht nur mit Krieg, sondern auch mit der Reaktivierung und Radikalisierung religiös-konnotierter Rhetorik beantworte, unterstreiche, wie eng Religion, nationale Identität und Imperialismus in Osteuropa bis heute verflochten seien.

Nikolay Mitrokhin legte dar, dass in den postsowjetischen Staaten die Bevölkerung eine relativ geringe Bindung an die orthodoxen Kirchen aufweise. An ihre Stelle seien verschiedene Spielarten ziviler Religionen getreten, die in Teilen auch staatlich geförderten würden, wie z. B. in Kult des Großes Sieges in Russland, der an den Krieg gegen Nazideutschland erinnert. Dennoch spiele die Orthodoxie in den Medien und für die politisch Verantwortlichen eine wichtige Rolle als kulturelles Erbe der jeweiligen Länder. Daher werde u.a. die Anwesenheit orthodoxer Würdenträger bei staatlich-zivilreligiösen Feierlichkeiten erwartet. Dies erfordere oft ein Sich-Einlassen auf einen religiösen Eklektizismus. Innerhalb der orthodoxen Kirchen gebe es in Teilen durchaus Vorsicht gegenüber einer solchen Indienstnahme und den Versuch, den eigenen „spirituellen Kern“ zu schützen; anderseits sähen sie sich starkem politischen und öffentlichen Druck ausgesetzt. Dieser trage zu einer oft „versöhnlichen Haltung“ gegenüber dem Staat bei, was den orthodoxen Kirchen wiederum Kritik von Seiten der Gegner der Regierung einbringe. 

Mihai Grigore blickte in seinem Eingangsstatement auf die rumänische Orthodoxie, deren Gewicht als zweitgrößte anerkannte Orthodoxie der Welt er betonte: Zusätzliche Bedeutung erlange sie nicht nur durch ihre Unterstützung zahlreicher ukrainischer Geflüchteter, sondern auch durch ihre traditionelle Positionierung zwischen der russischen und der griechischen Orthodoxie. Die derzeitige rumänische Kirchenführung sei zwar eher liberal, dennoch könne sie am ehesten die von Sebastian Rimestad eingangs skizzierte diskursive Trennung zwischen den unterschiedlichen Ausrichtungen der Orthodoxie überwinden. So komme ihr eventuell die Rolle einer Vermittlerin zu.

Die Eingangsrunde schloss mit einer Intervention von Stanislau Paulau, der herausarbeitete, wie sich im Umgang mit Afrika russische Kriegs- und Kirchendiplomatie überschnitten. Parallel zum Bemühen des russischen Staates, afrikanische Unterstützer zu gewinnen, suche auch das Moskauer Patriarchat nach Rückhalt unter den dortigen Gläubigen und Würdenträgern. Verkompliziert werde die Situation allerdings dadurch, dass der Patriarch von Alexandria, dem die afrikanischen Gemeinden traditionell unterstünden, die Autokephalie der Ukraine anerkannt habe – noch vor dem Krieg für Moskau ein Anlass, nach Russland ausgerichtete Parallelstrukturen aufzubauen und aggressive „Abwerbekampagnen“ zu starten. Die daraus resultierende Spannungslage versuchten die lokalen Gemeinden nun für sich zu nutzen.

In der sich im Anschluss entwickelnden Diskussion wurde zunächst noch einmal der Einfluss von Geistlichen auf die Meinungsbildung und die Möglichkeit von Opposition innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche thematisiert. Ebenso wurde darüber nachgedacht, inwiefern die Kirchen nach dem Krieg eine friedensstiftende Rolle übernehmen könnten. Beiträge aus dem Publikum brachten zudem die Historizität des Kiewer Patriarchats als Debattenpunkt ein und warfen die Frage auf, inwiefern in der Orthodoxie ein spezifischer Zusammenhang zwischen Nationalstaatlichkeit und Kirchenstruktur bestehe, der die religiöse Aufladung staatlicher Konflikte befördere. 

„Ich freue mich, dass das Publikum sich an der Diskussion beteiligt hat und zahlreiche Evaluationsbögen bei uns eingegangen sind“, bemerkt Louise Zbiranski, die die Wissenschaftsvermittlung der „Schnittstelle Religion“ verantwortet. „Unser Wunsch ist es, unsere gerade erst beginnenden Aktivitäten von Anfang an durch Feedback zu begleiten und so mehr darüber erfahren, wie die Gäste die Veranstaltung erlebt haben. Aus dieser ersten Runde nehme ich als Tipp mit, bereits mit der Veranstaltungsankündigung einführende und vertiefende Informationen im Open Access zu verlinken.“

Rückblick: Podiumsdiskussion „Religion im Ukraine-Krieg. Historische und regionale Perspektiven“, 3. November 2022

Grußworte
Dr. Jan Gerchow (Direktor Historisches Museum Frankfurt)
Prof. Dr. Birgit Emich (Dynamiken des Religiösen/Goethe-Universität)

Auf dem Podium:
PD Dr. Mihai Grigore (IEG Mainz)
Dr. Nikolay Mitrokhin (Bremen)
Jun.-Prof. Dr. Stanislau Paulau (Halle) 
PD Dr. Sebastian Rimestad (Leipzig/Erfurt) 
PD Dr. Svetlana Suveica (Göttingen)

Moderation:
Benedikt Schulz (freier Journalist)

Mehr zum Thema:
Sebastian Rimestad: „Die religiöse Dimension des Ukraine-Kriegs“, in: Global Dynamics. Blog of the Leipzig Research Center Global Dynamics, 10. Nov. 2022

Sebastian Rimestad: „Drei Narrative über das Christentum in der Ukraine“ in: Cursor_Zeitschrift für explorative Theologie, Vol.7, 22. Mai 2022.

Mihai Grigore im Interview mit Benedikt Schulz: „Gespaltene Orthodoxie in Moldau – Kirchenhistoriker Mihai Grigore im Gespräch“, DLF, 13. Mai 2022

Stanislau Paulau im Interview mit Benedikt Schulz: „Orthodoxie und Krieg – der orthodoxe Theologe Stanislau Paulau im Gespräch“, DLF, 23. März 2022.


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